«Wir alle müssen uns neu erfinden und die Zukunft anders denken»

Interview mit Politologin Dr. Regula Stämpfli

Das Coronavirus hat die Reisebranche ins Mark getroffen. Der Berner Reiseveranstalter edelline beschäftigt sich intensiv mit der Zukunft des Reisemarktes. Dr. Regula Stämpfli, Vorstandsmitglied der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung Swissfuture, blickt mit dem Leiter Kommunikation/PR von edelline, Thomas Wälti, auf die Zeit nach dem Lockdown. Die renommierte Politologin spricht über die Chancen für Reiseveranstalter, neue Mobilitätsformen im Fremdenverkehr und die steigende Bedeutung des Resonanz-Tourismus.

Wie verändert sich die Reisebranche nach dem Coronavirus?
Regula Stämpfli: Wenn ich dies mit Sicherheit prognostizieren könnte, dann wäre ich innert kürzester Zeit Multimillionärin! Die Reisebranche, und glauben Sie mir, mich als Nomadin trifft dies ganz persönlich, schaut momentan in den Abgrund. Die Leute werden erst wieder wie gewohnt reisen – selbst die Jungen –, wenn von oberster Stelle Entwarnung gegeben wird. Insofern hat das Virus aus einer unabhängigen florierenden Tourismus-Branche eine von Behördenmitteilungen abhängige Organisation gemacht. Wir haben alle unser Storytelling an Regierung und Virologen abgeben müssen. Deshalb kehrt Normalität erst wieder ein, wenn unsere europäischen Regierungen Entwarnung gegeben haben. Dies dauert viel länger als wir alle dachten. Ist der Schrecken jedoch überlebt, dann werden sich die Leute mehr Leben gönnen (Feiern, auf die Reise gehen, Rausch) als je zuvor.

Werden wir vermehrt Ferien in der Schweiz machen statt ins Ausland zu reisen?
Solange es keinen weltweiten Impfstoff gibt, werden Ferien nur in Länder gemacht, denen Regierungen man vertraut. Tourismus wird Post-Corona weniger exotisch, sondern eher ökologisch werden. Kurzfristig leiden alle südlichen Destinationen – selbst bei europäischer Entwarnung. Die schrecklichen Bilder aus Italien während der Coronakrise werden uns noch lange verfolgen.

Welche Themen werden an Einfluss gewinnen, wenn Europa wiedererwacht?
Die Zerstörung unserer realwirtschaftlichen Basis durch Politik und Medizin hat unglaubliche Dimensionen erreicht. Dass hier alle immer noch von «Hilfe» sprechen, die der Staat garantieren soll, ist ein Skandal. Strukturell gesehen hat unsere Regierung Tausenden von Leuten über Nacht gekündigt, Läden, Restaurants, Bars, Kinos, Museen geschlossen. Post-Corona brauchen wir ein Wirtschaftswunder, um uns von einer derartigen Enteignungswelle zu erholen. Ein solches erreichen wir aber nur, indem wir die Krise als Chance begreifen. Der beste Schutz gegen Pandemien ist laut Harvard Global Health Institute funktionierender Klima- und Umweltschutz, Artenvielfalt, sauberes Wasser, Luft, nachhaltige Energie und eine freiheitliche politische Ordnung.

Verändert sich die Kommunikation und die Ansprache des Kunden? Bleibt die Digitalisierung der Trend der Stunde oder gewinnen andere Formen des Kundenkontaktes?
Die Online-Kommunikation wird in der Tourismus-Branche wichtiger als je zuvor. Die Kundinnen und Kunden müssen wissen, dass sie faktenorientiert und wahrheitsgemäss informiert werden, dass der Anbieter über die Behördeneinschätzung genau Bescheid weiss, dass es gute Formen von Buchen und Stornieren gibt, kurz, dass auf den Anbieter wirklich Verlass ist. Hier gäbe es in der Branche viel zu verbessern und zu tun und letztlich auch zu verdienen.

Werden viele Reisende vom Flugzeug auf andere Transportmittel umsteigen?
Sicher, da der Luftreiseverkehr noch einige Monate lang gestört sein wird. Doch dann steigen Reisende nur dann vom Flugzeug auf andere Transportmittel um, wenn der Preis stimmt. Gerade nach der Krise haben alle von uns, d.h. die Mittel- und Gutverdienenden (ausser den Beamten und CEOs) weniger in der Tasche als je zuvor. Da wird der Preis fürs Reisen noch wichtiger als zuvor. Deshalb müssen sich die Behörden sehr wohl überlegen, wie sie die Preispolitik nach der Krise für die unterschiedlichen Transportmittel verteilen und welche Subventionen sie wo fliessen lassen.

Wo liegen die Chancen für Reiseveranstalter nach der Coronavirus-Pandemie?
Die Chancen liegen im Aufbau und Aufrechterhalten einer guten, vertrauensvollen und konstanten Kommunikation. Reiseveranstalter müssen wie Politisierende ständig mit ihrer Klientel in Kontakt bleiben, sonst laufen sie Gefahr, die Leute zu verlieren. Es werden alle Reiseveranstalter gewinnen, die sich auf sichere Angebote in Ländern mit gutem Corona-Krisenmanagement konzentrieren.

Müssen Reiseunternehmen ihr Angebot nach der Virus-Krise neu überdenken?
Das Angebot muss neu überdacht werden und die Kommunikation muss stärker in Aktion treten als bisher. Wie gesagt: Leute werden bei Reisewarnungen sehr hellhörig. Damit lässt sich viel Geld verdienen oder verlieren. Deshalb muss die Branche, stärker als zuvor, am Puls der Politik bleiben, um sich nicht zu verspekulieren.

Werden nach dem Lockdown neue Mobilitätsformen im Tourismus an Wichtigkeit gewinnen?
Sehr kluge Frage mit Investitionspotenzial. Bisher dienten die Tourismusblogs vor allem dazu, reale Destinationen zu bewerben. Ich könnte mir indessen auch vorstellen, die Leute vor dem Bildschirm mit an Destinationen zu nehmen – für diesen Tipp und die Idee dahinter will ich jedoch gut bezahlt werden (lacht herzhaft).

Sie machen uns gluschtig. Können Sie Ihre Idee etwas erläutern?
Wie gesagt, Storytelling ist wichtig. Ich könnte mir auch virtuelle Reiseangebote von der Tourismusbranche vorstellen. Ich gebe Ihnen gerne ein Beispiel: Ich könnte die Leute in die Mythenwelt des klassischen Griechenlands verführen und dies wie eine Reise gestalten. Oder entlang der Chinesischen Mauer schreiten.

Beeinflusst die aktuelle Pandemie das Reiseverhalten dahingehend, dass in Zukunft vermehrt zu zweit verreist wird oder haben Gruppenreisen weiterhin eine Chance?
Gruppenreisen haben eine Chance, wenn das Vertrauen in Gesundheitsmassnahmen, Abstandsregeln, Hygiene etc. vom Veranstalter überzeugend rübergebracht werden. Schliesslich kaufen die Leute auch in der Migros, im Coop, im Aldi etc. ein. Dies, weil die Behörden das Einkaufen für sicher erklärt haben.

Wird der aktuelle Trend zu verstärkten Hygienemassnahmen dazu führen, dass Reisende ihre Unterkünfte und Destinationen noch vorsichtiger auswählen werden? Nur noch Luxusunterkünfte sind sicher genug.
Das hat sicher was. Die Hygienemassnahmen sowie die Tatsache, dass die meisten Studierenden, die weltweit unterwegs sind, wieder zuhause gelandet sind – selbst Michelle Obama hat dazu gewitzelt –, bringen sicherlich eine Präferenz für Sicherheit. Ob diese zwingend auch luxuriös sein muss, sei mal dahingestellt. Was extrem zunehmen wird, ist der Wohnwagentourismus. Denn Corona hat gezeigt: My home is my castle. Warum also nicht mit dem Castle rumreisen?

Demgegenüber steht der bereits vor der Pandemie erkennbare Trend hin zu nachhaltigem Reisen. Näher zur Natur. Einfachere Unterkünfte. Was wird sich durchsetzen?
Mehr Natur bleibt im Trend, einfachere Unterkünfte eher weniger. Durchsetzen wird sich der Caravan-Tourismus, der bei den älteren, geburtenstarken Jahrgangs-Generationen, ich wollte jetzt nicht respektlos «Boomer» sagen, schon jetzt unglaublich beliebt ist.

Momentan wird viel vom Resonanz-Tourismus gesprochen, der sich in Post-Corona-Zeiten etablieren soll. Was bedeutet Resonanz-Tourismus?
Resonanz bedeutet, in Beziehung mit sich selber und mit der Welt zu treten. Resonanz-Tourismus will Reisende und Einheimische, das Unterwegs-Sein und die Destination miteinander verbinden. Menschen wollen auch auf Reisen Geschichten erleben, erzählt kriegen und selber erzählen können. Das wird in der Reisebranche nach Corona noch wichtiger werden. Hier können Sie sich ruhig an all die arbeitslos gewordenen Theatermenschen für entsprechende Strategien wenden. Die leben Resonanz schon seit Jahren!

Stichwort Übertourismus: Werden traditionelle touristische Hotspots wie das Jungfraujoch, Zermatt oder die Kapellbrücke Luzern aufgrund der Vorsichtsmassnahmen die grossen Verlierer sein, wenn wieder gereist werden darf und Menschenansammlungen vermieden werden sollten?
Ja, wenn Masse dermassen wichtig ist; nein, wenn auf Nachhaltigkeit gesetzt werden kann.

Was empfehlen Sie den Reiseveranstaltern in der aktuellen Situation?
Tell your stories. Seien Sie authentisch und denken Sie über neue Wege nach. Reisen bedeutet so viel und es geht nicht einfach um die Destinationen, sondern um Träume und Erzählungen. Darin steckt die Innovation.

Was schätzen Sie, wie gross wird der Schaden für die Reisebranche sein?
Ich bin keine Ökonomin, aber aus der Geschichte und den Medienanalysen weiss ich: Die Verluste sind katastrophal. Wir sind alle von einem Tag zum anderen in unsere Häuser und auf den Umkreis von nationalstaatlichen Grenzen eingesperrt worden. Und dieser Zustand dauert nun schon wochenlang! Es ist eine Zeitenwende. Das schleckt keine Geiss weg, selbst wenn nach Impfstoff und Post-Corona-Angst die scheinbare Normalität wiederkehrt. Diese Wochen haben viele Existenzen existentiell bedroht und viele Spekulanten extrem reich gemacht. Das vergessen Menschen nicht so schnell. Deshalb gilt eigentlich: Wir alle müssen uns neu erfinden und die Zukunft anders denken.

Steht der Schweizer Tourismusbranche eine Entlassungs- und Konkurswelle bevor?
Ich fürchte ja, wenn sich die Tourismusbranche unter sich und mit den Behörden nicht auf nachhaltige Konzepte einigen kann. Diesbezüglich müsste die Tourismusbranche sofort handeln. Was die Finanzen betrifft, so liegen die Finanzierungsquellen auf der Hand: Es ist höchste Zeit, dass die Kriegsgewinnler der Coronakrise, nämlich die neun grossen Internetplattformen wie Google, Amazon, IBM, Microsoft, Apple, Facebook, Tencent, Baidu, Alibaba und Amazon endlich und massiv zur Kasse gebeten werden.

Findet in der Schweizer Tourismusbranche gerade eine Selbstreinigung statt?
Ich mag das Wort «Selbstreinigung» nicht. Das klingt nach einer ziemlich martialischen Ideologie. Was stattfindet ist zunächst mal ein riesengrosser Schock. Der muss verdaut, darüber nachgedacht und transformiert werden. Das, was geht, bleibt, das was nicht mehr geht, muss weg. Nur so gestaltet sich Zukunft.

Werden künftig mehr Versicherungen verkauft?
Ja klar. Was eigentlich paradox ist. Denn gerade die Pandemie zeigt, dass es für das Leben keine Versicherung, sondern Sicherheit, Verantwortung und Anpassungsflexibilität braucht.
 

Zur Person: Regula Stämpfli

Dr. phil. Regula Stämpfli ist Historikerin und Politik-Dozentin mit Schwerpunkt Hannah Arendt, Political Design, Digital Transformation und Demokratie-Theorie. Die bekannte Publizistin ist Bestseller-Autorin und unabhängige wissenschaftliche Beraterin für die Europäische Union. Die im Lorrainequartier und in Worblaufen aufgewachsene Bernerin gilt international als eine der anerkanntesten Expertinnen für Demokratie, Medien und Digitalisierung. Sie ist in Brüssel, Paris und St. Gallen tätig, wohnt in München und ist Mitglied in zahlreichen internationalen Forschungsinstitutionen und Stiftungen, unter anderem im Vorstand der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung Swissfuture.

@laStaempfli – so ihr Zwitschername – fungiert immer wieder im Who is Who der Schweiz und Global Leaders. 2016 gehörte sie zu den 100 einflussreichsten Businessfrauen in der Schweiz. Dr. Regula Stämpfli ist verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern.

Regula Stämpfli

Interview: Thomas Wälti / Bild: ZVG

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